Rey Cup in Reykjavik 2016
Noch ein Abenteuer
Es ist 16:15 Ortszeit an einem Dienstag Mitte Juli, als die mit über 200 Passagieren vollbesetzte 737-800 pünktlich auf die Minute auf der Landebahn aufsetzt - eine Landebahn, die in ein riesiges, bis zum Horizont reichendes, mit grau-grünen Flechten überwachsenes Lavafeld hineingefräst scheint. Waren es in Berlin bei der Abreise vor dreieinhalb Stunden noch an die 30°, ist der Himmel hier grau und diesig, unter einer geschlossenen Wolkendecke sind es gerade mal 13°. So stellt man sich Island vor. Island im Hochsommer. Aber was soll's, ich bin wirklich da - nicht nur zum ersten Mal in Island, und auch nicht nur als gewöhnlicher Tourist, sondern weil ich ein Jugendturnier pfeifen werde. Und was das bedeutet - an Herausforderung, aber auch an Spaß, ja reinem Vergnügen, das durfte ich wenige Wochen zuvor schon im dänischen Odense beim H.C.A. Cup in Næsby erleben: Faire Spiele auf hohem Niveau, kaum Fouls bei gleichzeitig ausgesprochen körperbetontem Einsatz und keine Reklamationen.
Ankunft im Stadion
Eine Stunde später kommt Jörg Irle von REFEX an, der mich für diesen Trip begeistert hat. Er hat eine Odysee von Münster in Westfalen über Amsterdam und Oslo nach Kevlavík, dem internationalen Flughafen von Island hinter sich. Gemeinsam fahren wir im Flybus nach Reykjavik - eine knappe Stunde im leichten Regen durch Lavafelder in die nördlichste Hauptstadt Europas. Von den gut 330.000 Einwohnern der weltgrößten Vulkaninsel lebt etwa ein Drittel in Reykjavík und der unmittelbaren Umgebung. Der Bus - ein besonderer Service - fährt uns direkt zum Sportgelände von Þróttur Reykjavík, dem Ausrichter des Rey Cup. Das "Þ" wird wie das englische "th" gesprochen, "Þróttur" bedeutet Kraft oder Energie. Über der Tribüne steht "Lifi Þróttur". Das bedeutet soviel wie "Es lebe Energie". Þróttur spielt in der Pepsideild, das ist die nach dem Sponsor benannte höchste Profiliga Islands. In Deutschland würde man die erste Mannschaft als Fahrstuhlmannschaft bezeichnen, sie spielt immer wieder in der höchsten Klasse, kann sich dort aber nicht etablieren. Auch in der aktuellen Saison, die Ende September zu Ende gegangen ist, belegte man abgeschlagen den letzten der zwölf Tabellenplätze. 2.500 Zuschauer fasst das vereinseigene Stadion, in dem auf Kunstrasen gespielt wird - der einzige Kunstrasenplatz des Turniers. Das Stadion von Þróttur liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zum 15.000 Zuschauer fassenden Nationalstadion Islands. Dort ist auch der isländische Fußball-Verband untergebracht, der KSÍ oder in Langform Knattspyrnusamband Íslands.
Die Organisation
Im Stadion treffen wir Solmundur, den Organisationschef des Turniers, der angesichts desbevorstehenden Großereignisses eine beeindruckende Ruhe und
Gelassenheit ausstrahlt. Überhaupt ist von hektischer Betriebsamkeit auf dem Sportgelände nichts zu spüren.
Isländer sprechen sich übrigens mit dem Vornamen an. Die Nachnamen spielen eine nachgeordnete Rolle und werden - keine Regel ohne Ausnahme - nach einem
einfachen Grundprinzip gebildet: namensgebend ist in der Regel der Vater: Söhne tragen als Nachnamen den Vornamen des Vaters gefolgt von der Ergänzung
"son". Töchter tragen die Ergänzung "dóttir". Die Kinder unseres Obmanns würden demnach mit Nachnamen Davidsson und Davidsdóttir heißen. Diese Namen
werden auch nach der Heirat beibehalten.
Zeit für eine Tasse Kaffee und einen Blick in das offizielle Turnierheft, das auf Seite sieben eine Überraschung bietet: Dort wird REFEX vorgestellt,
das zwei Schiedsrichter zum Turnier abgestellt hat - mit einem Bild, das keine drei Wochen als ist: Jörg hatte mich mit Johannes Collatz und Paul Wenzek
bei unserem gemeinsamen Spiel in Odense abgelichtet, und von der Website von REFEX ist das Bild im Turnierheft gelandet.
Solmundur macht mit uns anschließend im Auto eine kleine Sightseeing-Tour: Er zeigt uns die sieben Großfelder im Umkreis, auf denen in den kommenden Tagen
gespielt werden wird - von morgens um acht bis abends um sieben ununterbrochen in Ein-Stunden-Scheiben, die Spielzeit beträgt 2 x 25 Minuten. Nachspielzeiten
werden nicht empfohlen. In den Altersklassen U13, U14, U16 Jungs wie Mädchen werden insgesamt 89 Mannschaften in verschiedenen Leistungsstufen ihre
Turniersieger ausspielen. Wie viele Einzelturniere das sind, werde ich bis zum Schluss nicht durchschauen.
Untergebracht sind wir in der Langholtsskóli, einer Schule, die etwa einen Kilometer vom Vereinsgelände entfernt ist. Dort gibt es ab halb sieben morgens
Frühstück. Im Lehrertrakt sind für uns externe Schiedsrichter Büros mit stabilen Klappbetten inkl. Bettzeug hergerichtet, jeder hat seinen eigenen Bereich.
Reykjavik
Nach meiner Premiere in einem Subways mit Sandwich zum Abendessen waren wir um zehn im Bett. Der nächste Tag stand uns zur freien Verfügung. Der einzige Tagesordnungspunkt
war die offizielle Eröffnung abends um neun. Also sind wir die drei Kilometer ins Stadtzentrum von Reykjavík gewandert, um die Stadt zu erkunden. Naja, ganz nett, würde ich
sagen. Aber eine Reise sind die isländischen Städte für sich nicht wert. Natürlich gibt es einige nette Ecken und Häuser, aber in Summe ist das Stadtbild nicht wirklich
beeindruckend. Den Besuch des Penis-Museums haben wir uns verkniffen, dafür die Hallgrímskirkja, die Kathedrale von Reykjavík, besucht - das komplett aus Beton errichtete,
beeindruckende Wahrzeichen der Hauptstadt. Auffällig war, dass die Isländer noch ein wenig im Rausch über den Erfolg ihrer Nationalmannschaft in Frankreich waren: Überall
wurden Nationaltrikots angeboten, auf einem Platz stand eine Tafel mit einem Mannschaftsfoto. Bei einigen Spielern waren die Köpfe ausgeschnitten, so dass man sich ins Foto
integrieren konnte, wovon reichlich Gebrauch gemacht wurde.
Wenn wir gewusst hätten, was uns in den nächsten Tagen erwartet, hätten wir an diesem Tag vielleicht ein paar Meter weniger gemacht. Um fünf Uhr nachmittags sind wir wieder
am Sportplatz von Þróttur, wo immer noch nicht wirklich Leben ist. Wir wollen uns mit Sten treffen, der während des gesamten Turniers für die Besetzung der Spiele mit
Schiedsrichtern zuständig sein sollte. Wir wollen uns mit ihm abstimmen: Wer sind die Schiedsrichter, die mit uns pfeifen, wie viele Spiele erwarten uns pro Tag, wie funktioniert
das Dualsystem? Das ist eine Besonderheit des Rey Cup: Alle Spiele werden mit zwei Schiedsrichtern geleitet. Dieses Dualsystem ist der USSF (US Soccer Federation) entlehnt, wo es
im College-Fußball eingesetzt wird. Ich werde darüber in der nächsten Ausgabe berichten.
Turniereröffnung
Sten sei noch bei der Arbeit, hieß es, um halb acht stehe er zur Verfügung. Um halb acht ist er nicht da. Um acht auch nicht, um halb neun nicht, um neun nicht. Da soll schon die Turniereröffnung anfangen - aber es sind "isländische" 21:00. Es ist schließlich 21:30, als die Mannschaften ins Stadion einmarschieren - Mannschaften vor allem von Vereinen aus Reykjavík, aber auch von der ganzen Insel. Auch ausländische Teams sind dabei: Ein Team ist von den Färöern gekommen, eines aus Norwegen, Norwich City hat ein U16-Team geschickt mit ganzem Trainerstab, ebenso wie das U16-Mädchen-Team des FC Liverpool. Die weiteste Anreise hatten drei Teams aus einer Fußballakademie in Indien, die in den folgenden Tagen viel Lehrgeld bezahlen würden. Als alle ca. 1.300 Spieler auf der Tribüne sind, sorgen zwei laute Trommelschläge für Ruhe - unmittelbar gefolgt von einem synchronen Klatschen und einem lauten "Huh!". Immer schnellere Trommelschläge, immer schneller folgt das "Huh!" Das inzwischen legendäre "Huh!" wird zelebriert - Gänsehautstimmung pur. Und Sten ist da. Er war davon ausgegangen, dass wir uns erst am kommenden Morgen um halb acht treffen - eine halbe Stunde vor Turnierbeginn. Isländische Gelassenheit. Ein Missverständnis, so what. Wie vor einem Jahr, als man für die Schwimmbad-Party um neun 1.000 Portionen Eis bestellt hatte. Die wurden dann morgens um neun geliefert. Sten setzt sich nach unserem Gespräch an seinen Rechner und besetzt die halbe Nacht Spiele und telefoniert. Morgen um acht Uhr soll es losgehen. Auf sieben Plätzen - nach Plan mit 14 Schiedsrichtern.
Schiedsrichterwesen in Island
Jörg, ich und ein junger Kollege aus der französischen Schweiz sind die einzigen ausländischen Schiedsrichter. Alle anderen Schiedsrichter kommen aus dem eigenen Verein. Hier bewährt sich, dass das Schiedsrichterwesen in Island etwas anders organisiert ist als bei uns: Alle Heimspiele im Jugendbereich müssen durch den gastgebenden Verein mit geprüften Schiedsrichtern besetzt werden. In Island gibt es eine sogenannte "Junior-Lizenz", die zur Leitung von Jugendspielen berechtigt. Dadurch haben sehr viele eine solche Lizenz, kommen nicht oft, aber immer wieder als Schiedsrichter zum Einsatz, und wissen, wie das ist, einsam und allein gegen alle zu amtieren. Dadurch sind Reklamationen von Spielern oder Betreuerstab nahezu unbekannt. Und es ist sich niemand zu schade, diese Junior-Lizenz zu erwerben. Es ist selbstverständlich, dass Spieler der Profi-Teams bei den Männern wie bei den Frauen - Frauenfußball steht in Island ausgesprochen hoch im Kurs - zu der Pfeife greifen. Im Laufe des Turniers kommt der Trainer der Profis genauso an der Pfeife zum Einsatz, wie Solmundur als Organisationschef oder Sten als Schiedsrichtereinteiler. Ich selbst werde vor einem Spiel von dem mir für eine gemeinsame Spielleitung zugeteilten Kollegen auf Deutsch angesprochen worden, wo ich herkäme. Woher er Deutsch kann, frage ich ihn. Naja, er sei Däne und habe fünf Jahre in Deutschland Fußball gespielt. Jupp Heynkes habe ihn 2006 zu Borussia Mönchengladbach geholt, jetzt spiele er auf Island seine letzte Profisaison. Viel Erfahrung haben die Kollegen an der Pfeife nicht, aber Respekt vor dem Amt. Sebastian Svärd, der eben zitierte Däne fragt mich denn auch vor dem Spiel, wann ich denn eine gelbe Karte gebe. Und viele, die mit uns erfahrenen Schiedsrichtern eingeteilt sind, sind froh darüber: You lead the game!" heißt es immer wieder, obwohl eigentlich beide Schiedsrichter im Dualsystem gleichberechtigt sind. Dabei machen die Jungs und Mädels ihre Sache gar nicht schlecht, nutzen ihre Erfahrung als Spieler. Auch Gunnar ist dabei. Der 20jährige ist der höchstklassige Schiedsrichter von Þróttur, leitet Spiele in der 1. Liga, der Spielklasse unterhalb der Pepsi-League, ist im isländischen Förderprogramm für Nachwuchs-Schiedsrichter. Er bezeichnet seine Schiedsrichtertätigkeit als einen seiner drei Berufe, von dem man in der Saison von Frühjahr bis Sommer durchaus leben kann. Bezahlt werden alle Schiedsrichter direkt vom Verband, nicht von den Vereinen. Das Geld kommt von der UEFA.
Der Turnierstart
Am Donnerstagmorgen sind wir um halb acht am Sportplatz. Jetzt endlich ist was los. Es ist unklar, ob Sten schon wieder da ist oder immer noch, er telefoniert. Natürlich hat er
nicht genug Freiwillige gefunden, die morgens um acht unter der Woche an der Pfeife aktiv sein wollen oder können. Macht nix, die ersten Spiele werden alleine gepfiffen.
Nichtneutrale Assistenten Fehlanzeige. Ich starte mit einem U14-Mädchenspiel, werde mit dem Auto zu dem abgelegensten der Sportplätze gefahren. Strömender Regen. Ich habe keine
Ahnung, wie viele Spiele mich an diesem Tag erwarten und will erstmal einen guten Eindruck machen und laufe mit vollem Einsatz. Die Spielerinnen sind hinterher ganz angetan, so
einen engagierten Schiri hätten sie bisher noch nicht gehabt. Das Spiel selbst ist erwartet fair, es gibt kaum Fouls. Um 9:00 gleich das zweite Spiel, diesmal nicht alleine,
Gunnar kommt. 1,94m Wikinger. Es ist die reine Freude, mit ihm, der das System kennt, meine ersten Gehversuche mit dem Dualsystem zu machen. Das Spiel ist immer in der Zange
zwischen den Schiedsrichtern, die Grundlagen des Stellungsspiels sind allerdings gewöhnungsbedürftig. Doch dazu im Februar mehr. Der Regen hat aufgehört, die Sonne kommt raus,
es gibt sie also auch in Island. Einer der isländischen Kollegen ist angesichts des Regens ohnehin nicht besonders negativ gestimmt: Bei 13° Lufttemperatur meint er während eines
Regenschauers: "Wir haben Glück, wenigstens ist es warm!" Immerhin: Im Sommer ist Dauerregen in Island selten. Mit Schauern dagegen muss man jederzeit rechnen, meine Fußballschuhe
werden während des ganzen Turniers nicht mehr trocken. Die Trikots werden in den Pausen regelmäßig zum Trocknen aufgehängt. Das mit der Wärme ist übrigens nicht so weit hergeholt:
Der Juni war in Island der wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1880. Auch auf Island schmelzen die Gletscher.
Nach zwei Spielen bin ich froh, eine Pause einlegen zu können. In einem großen Raum, der den Schiedsrichtern zur Verfügung steht, und in dem Sten vier Tage und Nächte lang nahezu
ununterbrochen telefoniert und in Realtime Spiele besetzt, ist jederzeit für Essen und Trinken gesorgt. Unmengen von Subways, Pizza, Kuchen, Cola, Kakao, Kaffee. Nur Wasser gibt's
nicht, der Isländer trinkt Leitungswasser, das - kalt genossen - anders als das warme Wasser auch nicht nach Schwefel riecht. Dazu hat Þróttur offensichtlich einen Großauftrag an
Schiedsrichterkleidung abgesetzt, die einheimischen Schiedsrichter sollen einheitlich auftreten, auch ich leihe mir eine Garnitur aus, als meine Sachen alle nass sind. Dazu gibt es
Pfeifen, riesige Stoppuhren und selbstgebastelte Signalkarten in rauhen Mengen.
Der Tag wird noch hart - am Ende habe ich sechs Spiele geleitet, fünf davon alleine. Es ist eine Wohltat, dass die Turnierteilnehmer im nahegelegenen Freibad freien Eintritt haben.
Um 19:00, nach den letzten Spielen schleppen wir uns direkt dorthin - in die sogenannten Hot Tubs, die Thermalbecken, in 38 bis 44° warmem Wasser die Muskeln entspannen. Das hätte
ich auch im Becken mit 8° kaltem Wasser tun können, vermute aber, dass das eher zu Verkrampfungen geführt hätte.
Der zweite Tag
Der Weg von der Schule zum Sportplatz morgens um kurz nach sieben wird am zweiten Tag schon nicht mehr ganz so schwungvoll zurückgelegt. Immerhin, inzwischen sind so viele
Freiwillige gefunden, dass alle Spiele im Dualsystem laufen, da kann man es hin und wieder tatsächlich verantworten, den Kollegen in der anderen Hälfte mal "machen zu lassen",
ohne mit Nachdruck hinterher zu gehen. Fünf Spiele stehen am Abend in der Bilanz. Spiele, die mit hohem Einsatz geführt werden, bei U16-Spielen bin ich nahezu der kleinste auf
dem Platz.
Überhaupt: Die Fitness der Spieler ist beeindruckend. Anders würden sie diese körperbetonte Spielweise wohl auch gar nicht durchhalten. Einer der Jugendspieler erklärt mir das
Prinzip: Wenn im Zweikampf der Arm unten ist, kann es kein Foul sei. Die Heftigkeit des Rempelns und Schiebens spielt dann im wesentlichen keine Rolle. Wenn der Arm aber oben ist,
z.B. beim Kopfballduell auf der Schulter des Gegners liegt, oder der Gegner mit der Hand weggedrückt wird, dann ist es Foul. Die Hand ist trotzdem in der Regel bei beiden Spielern
im Einsatz: am Trikot des Gegners - um den Kontakt herzustellen, eher weniger, um tatsächlich zu halten. Fußvergehen dagegen finden praktisch nicht statt. Bei allem Einsatz, ist
dieser fast immer kontrolliert und technisch sauber. Wenn dann allerdings mal gegrätscht und der Ball knapp verfehlt, dafür der Gegner getroffen wird, wird immer Gelb gefordert.
So kann es passieren, dass man erst gegen Ende des Spiels zum ersten Mal wegen eines Fouls pfeifen muss. Ein Kollege hat gar erst nach zehn Spielminuten gemerkt, dass er gar keine
Pfeife dabei hatte. An diese Spielweise muss man sich erst einmal gewöhnen. Die indischen Teams hatten ihre Last, die Spiele einstellig zu gestalten. Beim ersten Gastspiel einer
US-Mädchenauswahl sei geradezu ein Kulturschock zutage getreten: Am ersten Abend habe die Collegeauswahl - körperbetonte Spielweise nicht gewohnt - sage und schreibe 18 verletzte
Spielerinnen gezählt.
Insgesamt wird in Island sehr viel Wert auf die Ausbildung der Spieler gelegt. Þróttur hat bis zu den untersten Altersklassen fast nur lizenzierte Trainer im Einsatz, der älteste
Jahrgang wird von einem der "All-Time-Top-10-Spieler" Islands trainiert, der als Trainer, so erzählt man mir stolz, auch mal Arsenal trainiert hat und in Schweden mit seinem Team
Meister geworden ist. Man möge mir verzeihen, dass ich den Namen nicht weiß. Vor einigen Jahren - das muss vor der Finanzkrise gewesen sein - sind in Island zudem viele Hallen
gebaut worden, so dass auch im Winter trainiert werden kann. Die EM hat gezeigt, dass Island auf dem richtigen Weg ist.
Natürlich wird auch in Island der Schiedsrichter kritisiert - aber weniger von den Spielern, die fast alle Entscheidungen kommentarlos hinnehmen, als - wie auch in Deutschland -
von den Eltern. Das angenehme ist, dass ich das in Island nicht mitbekomme, weil ich die Sprache nicht spreche und es für Anfeuerungen der eigenen Mannschaft halte. Ein isländischer
Kollege erzählt mir, er habe in einem Spiel mit mir so getan, als verstehe er auch nichts. Und nachdem die Eltern dann wohl eine Weile damit beschäftigt waren, mich aufzufordern,
auf beiden Seiten gleich zu pfeifen, haben sie festgestellt, dass ich nicht reagiere: "Wir können aufhören zu meckern, der Schiri versteht sowieso nix." Auch das ist ein Vorteil,
wenn man im Ausland pfeift. Eine isländische Kollegin dagegen ist so hart angegangen worden, dass sie nach dem Spiel im Rückzugsraum der Schiedsrichter hemmungslos weint.
Der dritte Tag
Wieder stehen am Abend fünf Spiele zu Buche. Und ich erlebe eine besondere Lektion in Fair Play: 4:0 steht es in einem U14-Spiel gegen das indische Team, als es einen Freistoß
kurz vor dem Strafraum für die Isländer gibt. Bei der Ausführung läuft der erste Spieler über den Ball. Dann der zweite. Der Dritte. Ich nehme die Pfeife schon mal hoch. Der
vierte läuft über den Ball. Als der fünfte über den Ball läuft pfeife ich und verwarne den Spieler. "Why me?" ist die fassungslose Reaktion. Weil's unfair ist eben. Hätte
auch jeden anderen treffen können. Ist eher eine Verwarnung gegen das Team. Das akzeptiert er. Der Freistoß wird anschließend verwandelt, dann stehen die Inder und ich alle
zum Anstoß bereit und warten auf die Isländer. Die stehen jedoch auf dem Platz im Kreis zusammen, in der Mitte der Trainer. Zwei Minuten redet er auf seine Spieler ein, dann
geht es weiter. Als ich ihn in der Halbzeit anspreche, dass im Fußball eigentlich kein Timeout vorgesehen ist, sagt er: Ich habe den Spielern erklärt, dass sie Respekt vor
dem Gegner zu zeigen haben. Respekt!
An anderer Stelle ist man in Island nicht so weit vorne dabei: Man wird dort keine schnelle Spielfortsetzung finden. Die Spieler warten immer auf den Pfiff. Selbst ein Zuruf
oder ein Winken zeigen in der Regel keine Wirkung. Nur so ist zu erklären, dass sich ein Torwart bei seinem Trainer bitter beklagt hat, ich habe ihm keine Zeit gelassen, die Mauer
zu stellen. Natürlich nicht, der Freistoß soll ja eine Strafe sein. Nein, in Island geht alles seinen geregelten Gang: Wenn der Schiedsrichter und der Torwart die Mauer gestellt
haben, dann kommt der Pfiff und es geht weiter. Und der Schiedsrichter wird die Mauer stellen. Garantiert. Die Schiedsrichter in Island sind dazu angehalten, sie sind sogar dazu
angehalten, den Abstand abzuschreiten. So erklärt es mir Gunnar, der immerhin im Profibereich eingesetzt wird. Umso irritierter waren die Spieler, dass ich das nicht so gemacht
habe. Und als dann ein Spieler, gegen den ich einen Freistoß verhängt habe, zuerst auf mich wartet, dann zum Ball läuft, schaut er mich fragend an, als ich ihn auffordere vom
Ball wegzugehen. Er nickt und geht weiter auf den Ball zu. Als ich ihn erneut - jetzt energischer - wegschicke, hebt er beschwichtigend die Arme, läuft schneller bis zum Ball,
dreht sich um und geht tatsächlich, sorgfältig die Distanz abmessend, neuneinhalb Schritte vom Ball weg, dreht sich um und bleibt stehen. - Wenn der Schiedsrichter den Abstand
nicht herstellt, hilft sich der Spieler eben selbst.
Der letzte Tag
Das Turnier zehrt merklich an den Kräften. Es kommt zunehmend vor, dass der Kopf den Muskeln den Befehl gibt "Lauf' hinterher!" und die Muskeln mit einem knappen "Vergiss' es!"
antworten. Wieder stehen fünf Spiele an, diesmal die Final- und Platzierungsspiele. Es ist gut, dass heute die erfahreneren der Vereins-Schiedsrichter zum Einsatz kommen. Ich
bin zu zwei Spielen um Platz drei angesetzt und zu zwei Finals bei der U14. Für das Finale der U16 kommt ein Schiedsrichter des Verbandes: Es ist das einzige Spiel des Turniers,
das vom Verband besetzt wird und genau das ist die Bedingung des Verbands für die Ansetzung eines Schiedsrichters: Jugendspiele sind in Island eben vom Heimverein zu besetzen und
wenn der Verband dann schon gnädigerweise einen Schiedsrichter stellt, dann muss es ein Finale sein! Auf der anderen Seite müssen wir Gast-Schiedsrichter auch ehrlicherweise
eingestehen, dass wir nach vier harten Tagen einem B-Jugend-Finale auf derart hohem Niveau wohl auch kaum ein adäquater Spielleiter sein würden.
Um 15:00 ist die Siegerehrung - in absolut würdigem Rahmen: Wieder ist die Tribüne voll besetzt, wieder sorgt das "Huh!" für Stimmung. Dann ist es vorbei. Meine Familie ist
inzwischen am Sportplatz angekommen, aus Berlin nachgereist, jetzt steht der touristische Teil der Reise an: Im Mietwagen haben wir eine phantastische Woche auf einer Reise rund
um die so unglaublich abwechslungsreiche Insel.
Ein paar Tage später bin ich wieder im Alltag angekommen: C-Liga in der Heimat, alle glauben, dass sie Fußball spielen können, nur wenige können es, die meisten gehen mit vollem
Einsatz aber ebenso unkontrolliert in die Zweikämpfe, wundern sich, wenn es knallt und sind bei jedem - bei wirklich jedem Körperkontakt am Reklamieren, fordern für den Gegner
das körperlose Spiel und gehen selbst in die Zweikämpe als gäbe es kein Morgen.
Übrigens: "Tak for kampen!" heißt auf Island "Takk fyrir leikinn!"
mim
Und zu guter Letzt noch ein kleiner Video-Eindruck vom Beginn der Siegerehrung:
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